Liebe I
Liebe, ich habe keinen Bock mehr auf dich! Denn du bist überhaupt nicht das, wovon ich immer dachte, dass du es seist. Ich fühle mich hintergangen, ja regelrecht verarscht von dir. Gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht auf dich wütend sein sollte. Denn im Grunde bist du nichts weiter, als eine perfekte, kuschelige Version von Gandhi, wohlriechend und in Pasteltönen, hast nie etwas Schlechtes gemacht, hast dir nie etwas zuschulden kommen lassen. Dabei möchte ich dir so gerne die Schuld in die Schuhe schieben, an meinem Leid, möchte dich anklagen. Verklagen am besten. Und ja, ich weiß, in Wahrheit hast du mich nie belogen. Schulterzuckend sehe ich dich vor mir sitzen und höre dich sagen: „Ich habe dir nie etwas vorgespielt. Du hast mir nur nie richtig zugehört, hast nie wirklich hingeschaut, hast nie verstanden wer ich eigentlich bin.
“Manchmal ist es mit Dir, wie mit dem Baden in den Wellen des Meeres. Ein ausgelassenes Planschen, ein Getragen und Herumgewirbelt werden. Ein Hineinspringen und dann greifst du mich und schleuderst mich und ich lache wenn du mich erfasst und am Strand wieder ausspuckst. Es macht Spaß, die Kontrolle an dich abzugeben, sie zu verlieren. Ich genieße das Spiel in den Wellen. Und die Wellen, die scheren sich nicht um mich. Die sind einfach da, rollen in eigenem Rhythmus an den Strand, ziehen sich dann wieder zurück. Gleichförmig und verlässlich wie Atemzüge.
Aber, du kannst auch anders. Es gibt nämlich auch diese unangenehmen Momente in der Welle. Da packst du mich dann unerwartet von hinten und schlägst mir über dem Kopfzusammen, wie eine wilde Furie. Dann greifst du nach mir und zerrst mich einfach mit, wohin du willst. So dass Gesicht und Körper unter Wasser auf den Sand schlagen, der eben noch weich und dann plötzlich unglaublich hart ist. Bis die Orientierung verloren ist. Du bist so unendlich viel stärker als ich, genau wie meine Schwester als wir Kinder waren, ich sieben und sie zehn Jahre alt. Chancenloses Strampeln und Kämpfen in gurgelndem Wasser. Bis ich aufgebe und mich ziehen lassen. Von diesem Sog, der mich einfach nimmt und hinzieht wohin er will, gefühlt hinab, und dann am Ende ausspuckt. Meistens bleiben lediglich kleinere Schürfwunden, ich muss nur lange genug die Luft anhalten können. Aber was passiert, wenn mir die Luft ausgeht? Was passiert dann? Es fühlt sich schrecklich an, hinterhältig und fies, absolutes ausgeliefert sein. Eben noch lachen und Spaß und dann plötzlich bitterer Ernst. Und wenn du das mit mir machst, liebe Liebe, dann werde ich wütend. Dann will ich dich nicht mehr, dann find ich, du bist eine richtig blöde Sau.
Da bist Du also mal wieder von hinten an mich herangerollt und hast mich unter Wassermassen begraben. Touché Amore. Ich gebe auf, gebe mich geschlagen, ergebe mich mit erhobenen Händen. Ich habe hart gekämpft aber du hast mich besiegt. Ich weiß nicht ob es ein fairer Kampf war, dennoch habe ich mich sehr bemüht und habe nicht einfach aufgegeben. Meine Wunden immer nur kurz geleckt um dann zurück in den Ring zu steigen, geschwächt aber ich kann mir nichts vorwerfen, ich habe alles gegeben. Ein Kampf, bei dem man gerne als Zuschauerin in der ersten Reihe gesessen hätte, um ihn hautnah mitzuerlebend -spannend wäre es gewesen! Ich habe dich zu bezwingen versucht. Du bist meine Gegnerin gewesen, meine Feindin. Mehr als ein Boxkampf, es war eine Schlacht. Ein Schlachtfeld, auf dem wir uns am Ende begegneten. Und nun, nun ist die Schlacht geschlagen. Sie istvorbei. Ich bin besiegt.
Von wem eigentlich? Habe ich gegen Gandhi gekämpft, und er hat mich besiegt? Bin ich wie eine Schattenboxerin mit erhobenen Fäusten vor dir herum gehüpft, in der Annahme, es gehe um Leben und Tod aber du hast kein einziges Mal auch nur einen Finger erhoben? Hast lediglich da gesessen und mich angelächelt? Ich kämpfe die ganze Zeit gegen einen friedlichen Gandhi und merke es nicht mal? Was für ein Boxkampf, extrem lächerlich muss das ausgesehen habe. Ich habe jetzt verstanden, dass du nie der Feind gewesen bist. Dass ich es selbst gewesen bin. Und das ärgert mich. Sehr. Wenn ich ehrlich sein könnte, dann müsste ich jetzt sagen, dass ich keinen Bock mehr auf mich habe, nicht auf dich. Aber darüber würdest Du sicher auch nur bedauernd den Kopf schütteln.
Liebe II
In Wahrheit meine ich auch nicht die Liebe als solche. Ich meine die Liebe zu einem Mann. Auch da meine ich gar nicht die Liebe als solche. Sondern ich meine das Tauschgeschäft oder die Abhängigkeit. Womit wir wieder bei der Verarsche wären. Denn Tauschware oder Abhängigkeit ist ja gar keine Liebe. Auch wenn ich noch so wütend auf dich bin, im Grunde weiß ich, dass du nie so getan hast, als seiest du etwas davon. Ich hab das nur die ganze Zeit gedacht. Warum eigentlich? Vielleicht sollte ich auf jemand anderen wütend sein. Vielleicht auf die Männer? Oder auf meine Mutter? Denn was hat sie mir über die Liebe beigebracht? Dass die Liebe einen Warenwert habe und man sie zum Tausch anbieten könne? Alles Lügen. Oder ich könnte sauer sein auf meinen Vater. Ja, am besten ist er schuld. Weil er nämlich so tat, als würde ich geliebt, wenn ich irgendwas täte. Etwas Gutes. Etwas Richtiges. Jedenfalls etwas besseres, als ich tat. Und dann dachte ich: Aha, das ist Liebe. Die kriegt man wenn man sich richtig doll anstrengt. Richtig, richtig doll. So, ihr seid also Schuld ihr verkorksten Eltern. Vorbilder wollt ihr sein? Pah!
Und was mache ich jetzt mit diesen Information? Grollen? Zornig sein? Mit dem Finger auf euch zeigen? Mich selbst bemitleiden? Einfach weitermachen wie bisher, bin ja schließlichso erzogen? Den neuronalen Bahnen im Hirn folgen? Die neuronalen Bahnen im Hirn verlassen? Das Hirn soll ja bis ans Lebensende veränderbar sein. Neuroplastizität nennen die das. Ab jetzt ist es offiziel: Ich bin selbst schuld wenn ich sitzen bleibe und den alten Bahnen folge. Rutsch mir doch den Buckel runter Neuroplastizität. Ich habe keinen Bock. Mich zu verantworten? Die Liebe kann doch nichts dafür und mein Hirn auch nicht. Will ich erwachsen sein oder bleibe ich lieber 5 Jahre alt?
Eben bin ich noch erwachsen und dann sagt er „ich kann dir nicht geben was du brauchst“. Oder ich sage „ich kann Dir nicht vertrauen.“ Auf jeden Fall endet es. Das fühlt sich an wieder Sturz mit dem Rad, den ich als Kind im Urlaub auf einem Campingplatz in Südfrankreich hatte. Der Schotterweg ist rutschig, ich überschätze meine noch jungen Radfahrkünste und rase viel zu schnell um die Kurve. Ich bin im Schock, schockiert über das unkontrollierte Abrutschen und dann über den Aufprall und dann über den Schmerz. Blut rinnt mein Kinn herab. Und von sonst überall her. Ich kann nicht sagen wo noch überall Schürfwunden sind. Sie dringen erst langsam, nach und nach in mein Bewusstsein. Anders als damals weiß ich heute, was nun als nächstes auf mich wartet: Das Säubern der Wunde. Die Kieselsteinchen müssen aus den Schürfwunden entfernt werden. Damit sich nichts entzündet. Damit alles gut verheilen kann. Tränen rinnen über meine Wangen. Es tut weh. Plötzlich bin ich fünf Jahre alt.
Bevor ich mich der Kieselsteinchen-Entfernung stelle, verhandele ich mit Dir. Liebe, warum schickst du mir nicht einfach einen Dieter aus Quickborn? Ich sehne mich so sehr nach ihm. Ich kenne eigentlich gar keinen Dieter aus Quickborn aber ich stelle ihn mir vor und mit ihm wäre ich ganz bestimmt glücklich. Denn Dieter, der steht in meiner Fantasie für Beamtengehalt, ein Reihenhäuschen (mit Garten), steht für zwei brave Kinder, für Sicherheit und, achja Langeweile gefolgt von: Erstickungstod. Das war das Problem. Das qualvolle, langsame Ersticken an seiner Seite. Ein Leben in Sicherheit. Eingetauscht gegen die Freiheit. Einer schafft die Kohle ran und der andere den Müll runter. Ein Tauschgeschäft vielleicht.
Während ich darauf warte, dass es aufhört weh zu tun, tue ich etwas, bei dem ich der Zeit beim Vergehen zusehen kann. Etwas, das mich erinnert, dass es eines Tage auch wieder anders sein wird. Zum Beispiel stricke ich Dir einen Schal als Abschiedsgeschenk. Ich stricke Dir einen Schal als Abschiedsgeschenk und solange ich stricke, nehme ich Abschied. Ich gehe nicht. Ich sitze und stricke. Und ich weine und ich trauere. Um die Liebe und um Dich. Es kann sein, dass dieser Schal noch lange braucht, bis er fertig wird. Meter um Meter, Wollknäul um Wollknäul, Träne um Träne. Doch das macht nichts. Es ist gut. Die Gleichförmigkeit beruhigt mich. Der wachsende Schal zeigt mir, dass die Zeit vergeht und ich weiß schließlich, dass es seine Zeit braucht, bis ein Schal zu Ende gestrickt ist. Ich kann weinen, hemmungslos, während die Maschen über die Nadeln fliegen. Ich werde wissen, wann er fertig ist. Ich werde es spüren. Dann werde ich das Strickzeug beiseitelegen, werde aufstehen, auf Dich zugehen, mit dem Abschiedsgeschenk in der Hand, und ich werde es Dir überreichen. Wenn er Deine Hand dann erreicht, lasse ich ihn los. Dann gehört er dir. Doch bis dahin werden noch einige Maschen und Reihen nötig sein. Heute sitze ich hier, und stricke. Und es ist gut so.
Liebe III
Ach liebe Liebe, ich sollte dir einen Liebesbrief schreiben. Ich atme tief durch und beruhige mich.
Liebe, du hast keinen Tauschwert. Du kannst nicht verdient werden. Du bist ein Geschenk und auch nur als solches kann ich Dich erhalten. Denn wahrscheinlich gibt es Dich gar nicht wirklich. Die Liebe als Liebe an sich, wohlriechend und in Pastelltönen. Das Lieben, das gibt es, da bin ich sicher. Und das ist, wie von Fromm so schön beschrieben, eineTätigkeit und vor allem eine Kunst. Und welcher Künstler musste nicht sein Handwerkszeug lernen, bevor er seine Werke in die Welt bringen konnte?