Gestern war ich mal wieder bei H. zur Stimm- und Atemarbeit. Zur Begrüßung fragte sie mich, wie es mir geht und ich antwortete „Hmm … durchwachsen“. Sie bohrte nach und wollte wissen, was ich damit meine. Ich beschrieb, das ich Tage habe, wo ich mich mehr mit mir und dem Leben verbunden fühle, und Tage, da ist das weniger. Dann spüre ich mich weniger und auch meine Umgebung. Es ist so, als ob mich alles weniger berührt. Das fühlt sich irgendwie leer und unschön an, ich hab weniger Motivation und Interesse, bin etwas kraftloser…und irgendwie unverbunden.
H. stutzte und fragte mich, ob ich schon mal mit einem Arzt darüber gesprochen habe, da diese Art der Wahrnehmung oft im Zusammenhang mit Depression beschrieben wird. Ich verneinte und konnte gleichzeitig die depressiven Züge durchaus mit Zustimmung für mich bestätigen. Mit Zustimmung meine ich, dass ich damit irgendwie fein war. Vor gut 10 Jahren hab ich noch gesagt, dass ich depressive Erfahrungen nicht kenne. Inzwischen bin ich 53 und um einige dunkle Stimmungen reicher. Das „reicher“ kann ich heute sagen, weil ich immer besser lerne, damit umzugehen. Als die Stimmungen losgingen, war ich ziemlich hilflos. Warum ist das eigentlich so, dass wir uns mit den Stimmungen, Emotionen und Gefühlen häufig so allein fühlen? War das nicht schon zu Kindeszeiten und in der Pubertät so?
Ich weiß noch, wie die letzte Stimmung vor ein paar Tagen losging: Ich saß in einer Kleinstadt in einem Café draußen an einem Tisch mit einem 85-jährigen Herren. Es war heiß, die Sonne knallte und der Tisch war der einzige Schattenplatz. Ich fragte, ob er noch auf jemand warte oder ob ich mich, wegen dem Schatten, zu ihm an den Tisch setzten könne. Er entgegnete: „Ick bin seit zwei Jahren Witwer. Der Platz ist frei“. So saßen wir beisammen, tranken Kaffee, aßen Brandenburger Gebäck, kannten nicht unsere Namen und fingen ein Gespräch an. Naja, es war eher er, der erzählte…
Neben vielen anderen, gab es auch Geschichten darüber auf wie er Vater wurde, oder über die Besuche mit seiner Frau hier in diesem Café. Dann hatte ich immer das Gefühl, ich sehe andere Gesichter in ihm, als wäre er irgendwie jünger und weicher. Seine einzige Tochter ist nun so mein Alter und ich fragte ob er Enkel habe: „Leider nein, …“ und es folgten Geschichten zu seiner Tochter, die in Berlin lebte und über das Familienhaus, indem er nun allein sei: „Bei meiner Frau haben sie im Krankenhaus vor zwei Jahren ein Nierenleiden festjestellt, nachdem ick sie dorthin jebracht habe, weil sie ohnmächtig wurde.“
Nach der Behandlung im Krankenhaus war sie wieder bei Bewusstsein und nachdem sie die Diagnose hatte, wollte sie keine ständige Dialyse. Das Weiterleben mit der Schwäche und der Blutwäsche alle 2-3 Tage im Krankenhaus war für sie keine Option. Und so fuhren sie wieder in das gemeinsame Haus und hatten ihre letzten gemeinsamen Stunden, vielleicht Tage. Sie saß auf der Terrasse in der wärmenden Frühjahrssonne: „ich streichelte sie und als ich kurz wegging und ihr beim Wiederkommen einen Kuss geben wollte, war sie schon… nicht mehr da…war sie tot.“
Ich saß vor ihm und mir liefen die ganze Zeit die Tränen, während er erzählte. Irgendwann hielt er inne: „Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie hier die ganze Zeit mit meinem Leben behellige, aber ich habe kaum jemand… Eigentlich rede ich seit zwei Jahren jeden Tag nur mit ihr!“ Seine Augen wurden feucht, „sie meinte, ick soll das Leben noch jenießen.“ So saßen wir da im Schatten im Café, er unterdrückte die Tränen und ich versuchte, weniger zu weinen.
In mir gibt es ganz schön viel Heulkraft. Schon sehr lange – keine Ahnung warum. Ich mochte nie gerne Drama-Filme schauen. Vielleicht habe ich Angst vor den vielen Emotionen und dem „Nicht damit klar kommen“. Nun hatte es mich mal wieder überrumpelt – aber auch nur zu den Teilen, die in mir meinen, dass ich nicht so überrumpelt sein sollte oder glauben, dass „Es“ Zuviel sein könnte.
Zurück zu Depressionen: Es wird in der Beschreibung zwischen endogenen und exogenen Depressionen unterschieden. Bei endogenen Depressionen liegen die Bezüge im Inneren und genetische und biologische Faktoren werden als Ursache betrachtet. Exogene Depressionen entstehen als Reaktion auf besondere bzw. lang anhaltende Belastungen. Bei mir sehe ich die hormonelle Veränderung in meinem Alter als auch die Summe meiner Altlasten als gemeinsame Ursachen. Das hormonelle unterstütze ich mit gesunden Lebensstil (Essen, Bewegung, Natur, kalt duschen und was sonst noch so hilft). Die Altlasten sind bei mir in die Jahre gekommene automatische Reaktionsmuster.
Bei bestimmter emotionaler Überforderung ziehe ich mich zurück. Schwupps. Vielleicht war das mal für etwas gut, aber inzwischen erlebe ich es wie ein Festhalten von Nicht-Erleben bzw. ein Festhalten an der Sicherheit der Wiederholung.
„Das was ist darf sein und das was sein darf, verändert sich“ entspricht heute vielmehr meiner Erfahrung im Umgang mit Emotionen und Gefühlen. Ich kann mir selbst eine neue innere Umgebung des „sein-dürfen“ schenken. Leichter und stabiler wird es mit dem Erleben, dass ich auch mit Anderen damit sein darf – Geteiltes Leid ist halbes Leid. Einfach fließen lassen…
Neben meinem neue Muster üben, beschäftigt mich erneut die Frage, ob nicht unsere Lebensmodelle, wie das kleine Familienhaus mit der Gartenscholle, in die Jahre gekommen sind. Dort ist man irgendwann doch wieder allein. Ist es nicht Zeit, die Menschen verschiedener Generationen mit guter Verständigung wieder zueinander zu bringen und in die Jahre gekommene Häuser, gemeinsam zu beleben? Gemeinsam ist man weniger allein, auch mit den ganzen Gefühlen, Emotionen und so…
Anbei noch eine Begleitmusik. Lass sie einfach laufen und höre ab 4:15 auf die Lyrics…